Persönlich erlebt

75 Jahre nach Kriegsende – ein Zeitzeuge berichtet

Es gibt sie noch. Zeitzeugen des 2. Weltkrieges. Einige wenige. Reinhard Müller, 94 Jahre, Mitglied der LKG Bremen, ist einer von ihnen. Vor einigen Jahren schrieb er seine Erfahrungen auf. Krieg und Gefangenschaft sind noch in lebendiger Erinnerung.

Mit dieser zweiteiligen Reihe gibt Reinhard Müller einen kleinen Einblick in sein damaliges Erleben.

An der Front in Italien – 1944

Als Soldat gehörte ich als Funker zum Artillerie-Regimentsstab des 305 Artillerieregimentes, in der 305. Division.

… Nachts ging es weiter an Arezzo vorbei. Es wurde Tag und an einem Olivenhain, auf offener Strecke, ein ca. zwei stündiger Aufenthalt – zur Front in Italien.
Noch in der Dunkelheit südlich von Rom oder südlich von L-Aquila? Wir wussten es nicht. Plötzlich Halt und aussteigen. Und dann ging es mit einem LKW in ein kleines Bergdorf der Abruzzen. Mit Mehreren verbrachten wir die Nacht in einem bewohnten Wohnhaus im oberen Wohnzimmer.

Ein Wunder – diese lange Reise, sieben Tage und Nächte unterwegs und kein Luftangriff
oder ähnliche Störung oder Vernichtung, denn die Lufthoheit hatten ja längst die Alliierten.

… Nur wenige Stunden nach dem Eintreffen in dem Bergdorf hörten wir Flieger und schon krachte es gewaltig. Wir wurden bombardiert. Ein Wunder: Keine Toten und Verwundeten!!!
Am nächsten Tag ein Gang durch das Dorf. In einem Haus besuchten wir zu dritt die Leute. Die Unterhaltung erfolgte mit Händen und Füßen. Ich erinnere mich an die liebe Frau die etwa so sagte: „Ach, eure Mütter werden weinen, denn ihr seid ja noch so jung. In Klammern: Es gab kein Schimpfen auf die deutschen Soldaten.

… Nach Tagen kam der Befehl: ‘zurück zur Einheit’. Auf dem Weg, nicht weit vom Haus entfernt, hörte ich es zischen und krachen. Ich warf mich in den Straßengraben und hörte einen großen Granatsplitter über mir und sah diesen kurz vor mir auf dem Weg aufschlagen. Wieder erlebte ich Bewahrung.
In den folgenden Wochen und Monaten erlebten wir viele Stellungswechsel Richtung Norden in den Apenninbergen und anderswo. In dieser Zeit wurde uns bewusst, wie gefährlich hier das Partisanengebiet ist.

Der 2. Weltkrieg mit allen Schrecken und Verlusten hatte ein Ende!
In diesen eineinhalb Jahren brauchte ich niemals auf einen Menschen schießen!

Mein persönliches Bekenntnis mit großem Dank:

Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und Schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

Rühmet ihr Menschen, den hohen Namen des, der so große Wunder tut!
Alles was Odem hat, rufe Amen und bringe Lob mit frohem Mut.
Ihr Kinder Gottes, lobt und preist Vater und Sohn und Heiligen Geist!
Halleluja, Halleluja.


(Aus dem Weihnachtslied: Die Nacht ist vorgedrungen, Jochen Klepper)

Reinhard Müller, August 2015

In Gefangenschaft in Ägypten

Es war der 8. Mai 1945, als wir auf dem Weg Richtung Norden in einem kleinen Ort von deutscher Militärpolizei festgehalten wurden. Sie sagten uns, der Krieg ist aus. Und dass wir alles abgeben und uns in der Schule hinter der Kirche sammeln sollten. Die amerikanischen Truppen hatten also dieses Gebiet noch nicht erreicht.
An diesem Nachmittag wurden wir dann die Serpentinen herunter zum Bahngleis geführt und stiegen in einen halbleeren Kohlenwaggon ein, um in die Kaserne nach Bozen gebracht zu werden.

Die Zeit vom 17.2.1943 bis zum 8.5.1945 lag nun hinter mir. Ich war nie verwundet oder ernstlich krank geworden, Dank meines Gottes und Heilandes. In Ostpreußen drei Monate im Reichsarbeitsdienst, dann in Frankreich sieben Monate als Soldat zur Ausbildung als Infanterist, Funker und Fernsprecher, zuletzt in Italien, in den Abruzzen und Apenninen-Bergen, an der Front.

Danach geht es nach Ägypten
Wir wurden bis zum Sommer 1945 in verschiedenen großen Lagern gesammelt und untergebracht, insgesamt ca. 150.000 ehemalige deutsche Soldaten. Nach und nach gab es Entlassungen. Oder man wurde weitergeleitet wie ich nach Ägypten – in die Wüste.
Die Amerikaner übergaben uns den britischen Truppen. Wir mussten uns mit Abstand hinkauern und alles ‚Hab und Gut‘ zur Kontrolle ausbreiten. Oh Schreck: Meine gute deutsche Kombizange! Schnell habe ich sie im Sand unter der Tasche versteckt und so gerettet. Später war mir die Zange noch von großer Wichtigkeit.

In Ägypten
Um 10 Uhr feierten wir am Ostzaun einen Ev. Gottesdienst mit Abendmahl. Wunderbar! Es strömten die Kameraden hin, ein paar hundert. Drei Pfarrer hinter einem einfachen Tisch. Gottesdienst mit Liedern, Gebeten und Predigt. Ja, was gab es denn zum Abendmahl? Richtiges Brot und Wein? Nun, ein paar Brotbrocken schon, aber anstatt Wein nur Wasser. Manch einer von uns dachte an das Wunder Jesu zu Kana im Johannes-Evangelium, Kapitel 2.

Nicht alleine
Eines Abends sagte plötzlich jemand zu mir: „Ich bin der Richard Geuke und komme aus Herrnhut. Und du?“ „Ich bin der Reinhard Müller aus Gnadenberg.“ Er: „Heißt dein Vater Oswald.“ „Ja!“ „Nun denk doch, bei deinen Eltern war ich 1924 zum Bläsertag der Brüdergemeine im Quartier.“ Beide waren wir sehr glücklich und froh, einen Glaubensbruder zu treffen. Richard Geuke wurde mein väterlicher Freund im christlichen Glauben in dieser Notzeit.

Meine Fragen
Und wir hatten Fragen. Fragen nach der Zukunft und nach den Eltern. Leben sie noch? Wie lange wird diese Gefangenschaft dauern? Wie lange noch wird der Hunger andauern? Die alte Frage: Was werden wir essen, womit werden wir uns kleiden? Werden wir nur herumsitzen und dabei fürchterlich schwitzen? Oder gibt es irgendeine Beschäftigung? Warum so eng beieinander? Nur 1,6 qm im Zelt für jeden, 10 Mann im Zelt von 4 mal 4 Meter und sehr niedrig.
Der Tag begann mit dem ‚Frühstück‘. Aus dem Blechnapf, Piknapf genannt, haben wir wässrigen Porridge gegessen, den der Zeltdiensthabende auf einem Tablett (von mir gebaut) geholt hat. Wir hatten weiterhin Hunger.

In meinem kleinen Notizheft von damals lese ich heute: Am 23.8.1945 die alte, warme deutsche Militärkluft ausziehen, abgeben und neue dünne Kriegsgefangenenkluft empfangen und anziehen! Wochen später im Winter pfiff der kalte Wind durch das dünne Zeug.
Man fror.
Und ich lese weiter: Alle unsere Sachen mussten wir vor dem Zelt in gerader Reihe hinlegen. Der zusammengefaltete Strohsack mit den wenigen Sachen drin, darauf die beiden Wolldecken, darüber ein weißes Handtuch, darauf Blechteller und Piknapf!! Dann ertönte das Kommando „Antreten zur Zählung“.

Am Freitag, 31. August 1945 notierte ich, dass wir einen ersten Gottesdienst im Lager 381 feiern konnten. Wir luden zwischen den Zelten lautrufend dazu ein. Aus manchen Zelten gab es Buhrufe. Von gegenüber der Lagerstraße kam der ostpreußische Pfarrer Scholaster. Wir standen mit 15 Mann im Halbkreis ihm gegenüber und feierten Gottesdienst ohne Störung. Pfr. Scholaster wurde mir ein lieber Freund.
Am 14. 10., einem Sonntag, feierten wir diesen Gottesdienst im „Waschhauscage“, einem Cage, in dem für alle im Lager 381 Duschmöglichkeit bestand. Hier haben wir eine provisorische Lehmziegelkirche gebaut. Dorthin strömten am Sonntagmorgen aus allen Cagen die Gottesdienstbesucher. Hier ergab sich die Möglichkeit, weitere Kameraden und Glaubensbrüder zu treffen.

Briefe nach Hause
Die Post an meine Lieben und umgekehrt ab etwa Frühjahr 1946 war für mich eine wichtige innere Hilfe. Wie viele Karten und Briefe gingen bis September 1948 hin und her. Durch Richard Geuke wussten meine Mutter und Schwester, dass ich in Ägypten in Kriegsgefangenschaft bin. Durch meine Tante Lydia Arlt, Diakonisse, die Adresse wusste ich auswendig, konnte ich den ersten Kontakt herstellen. Mutter und Schwester fanden die erste Notunterkunft in der Wesermarsch bei einem Bauern, ab 1947 in Bremen. Viele Briefe davon sind bis heute noch erhalten.

Weihnachten 1946
„Siehe, ich verkündige euch große Freude.“
Schon wieder Heilig Abend, den vierten fern von allen Lieben und der zweite in Afrika. Und doch voller Dankbarkeit und Fröhlichkeit verlebten wir alle diesen Tag. Vormittags bis 10 Uhr gearbeitet, bis 12 Uhr zwei Kleiderbügel fertig gestellt, nachmittags einen Brief an Martin geschrieben und ein Päckchen gepackt. In Zelt „C“ unserm Heim, 16.30 Uhr letzte Vorbereitungen für den Abend getroffen, anschließend geduscht und umgezogen für die Weihnachtsfeier auf der Bühne.
Es war eine ergreifende und sehr feine Feier mit einem guten Programm. Paul Zywitz las die Weihnachtsgeschichte vor, der Chor sang alt bekannte Lieder. Nach der Verlesung der Weihnachtsgeschichte sprach der englische Kommandant in herzlichen und aufrichtigen Worten zu uns. Seine Worte wurden ins Deutsche übersetzt.

Nach dieser Stunde gingen wir in unsere Zelte, wünschten allen Kameraden ein recht gesegnetes Weihnachtsfest. Um 21.30 Uhr fing unsere Feier mit Bescherung im Zelt “C” statt. Festlich geschmückte Lichter brannten an den Tischen, jeder hatte seinen Platz. Ich saß neben Paul Zywitz. Auf den Tischen standen für jeden ein Teller mit Apfelsinen, Erdnüssen, Schokolade usw., daneben ein Päckchen von einem anderen Kameraden vorbereitet. So verflossen die Stunden bei Gebet und Liedern sehr schnell. Um 23 Uhr begann die Christmette in der Kirche. Wunderbar. Diese ging bis 24 Uhr. Dann ging das Licht aus. Wir sieben Zeltkameraden saßen aber noch gemütlich 02.30 Uhr zusammen.

Es geht nach Hause
Am Donnerstag, dem 16. September 1948, Marsch zum Lagerbahnhof. Dort “Filzung” verschiedener Kameraden. Ich blieb verschont. Einsteigen in einen Personenwagen und ab nach Port Said, dort aufs Schiff ‘Orduna’. Am 21. September Ankunft in Triest. Bahnfahrt durch Österreich und Deutschland ins Munsterlager!
Heimkehr in die neue Heimat nach Bremen am 25. September 1948. Um 21 Uhr kam ich bei Familie Conrads in der Kreuzstraße 33-35 an.

Reinhard Müller, August 2015